Ein interessanter Bericht dazu in der Sueddeutschen
26. Juli 2021
Populismus: Die Einsamkeit der Querdenker
Bewegungen wie die Querdenker, Gelbwesten oder Proud Boys haben eines gemeinsam: Ihre Anhänger sind allein. Über ein Symptom unserer Zeit.
In einer kürzlich ausgestrahlten Dokumentation erinnert sich der frühere französische Premierminister Édouard Philippe an den Aufstieg der Protestbewegung der gilets jaunes im Winter 2018. Den an ihren gelben Warnwesten zu erkennenden Männern und Frauen, die jeden Samstag die Verkehrskreisel Frankreichs besetzten, ging es erst um eine Abschaffung der Ökosteuer auf Benzin, dann aber um viel mehr. Philippe erinnert sich, dass er die Sprecherinnen und Sprecher der Bewegung sehr bald nach den ersten Aktionen nach Paris in seinen Amtssitz einlud, um zu verhandeln. Aber am Morgen des vereinbarten Termins sagten sie ab: Sie hatten aus den eigenen Reihen Morddrohungen erhalten.
Die große und gewaltbereite Bewegung, die nicht nur in Paris, sondern in allen Provinzstädten Zehntausende Menschen mobilisieren konnte, verabscheute jede Form der politischen Repräsentation, sie duldete auch keine Kommunikation mit dem Regierungschef. Wer auch immer von ihnen im Fernsehen auftrat, wurde von den politischen Freundinnen und Freunden diskreditiert und angefeindet. Alles sollte vermieden werden, was die Bewegung in eine Organisation, gar in eine Partei überführen könnte. Das war neu: Eine Bewegung, die nirgendwohin möchte, die allen misstraut, vor allem den eigenen Leuten.
Das Auto war ihre Verbindung zur Außenwelt. Sie suchten Gemeinschaft am Kreisverkehr
Studien ergaben dann, dass es eine Bewegung von zuvor vor allem einsamen Personen war: Die meisten wohnten erst wenige Jahre an dem Ort, von dem aus sie zum Protestieren aufbrachen. Das Auto war ihre Verbindung zur Außenwelt. Sie suchten an den Kreiseln ein neues Gemeinschaftsgefühl, blieben aber misstrauisch bei allen Interaktionen, die nicht von Angesicht zu Angesicht vorgenommen werden können. Heute sind sie irrelevant.
Die Gelbwesten sind eine der vielen seltsamen politischen Bewegungen, die der Öffentlichkeit in den vergangenen Jahren Rätsel aufgaben. Eine andere war die amerikanische Tea Party – eine Bewegung, in der gut situierte Bürgerinnen und Bürger gegen die Pläne der Obama-Regierung für eine umfassendere Krankenversicherung auf die Straße gingen. Ihre Argumente – Obama plant Todesausschüsse und strebt die totale Macht an – waren dreiste Lügen und Übertreibungen. Besonders heftig waren ihr Eifer und ihr Hass, das strategische politische Ziel bleibt bis heute ein Rätsel. Teile davon haben in der Republikanischen Partei eine Heimat gefunden, seitdem ist die Idee einer überparteilichen Zusammenarbeit dort ausgestorben. Die Tea Party verachtet nämlich die Tugend des parlamentarischen Kompromisses und auch die übrigen Techniken, die einen Interessenausgleich mit anderen Menschen ermöglichen.
Ihren traurigen Höhepunkt erreichte diese Logik am Tag des Sturms auf das US-Kapitol am 6. Januar 2021: Weil man sich in dieser Welt keinen Spielregeln beugt, sondern immer wieder eigene erfindet und ihre Geltung stur einfordert, blieb nur die für die sozialen Medien inszenierte Gewalt. Dahinter standen zwar einige organisierte Gruppen wie die Proud Boys und die Oathkeepers – aber viele der Rechtsanarchisten hatten sich solo radikalisiert und stolperten durch den Tag wie durch die private Realität eines Videospiels. Nun stehen einige davon vor Gericht, einer nach dem anderen, allein.
Nicht viel anders agierte die Bewegung, die das Vereinigte Königreich in den Brexit bugsierte: Als der Bruch mit Europa per Referendum vollzogen war, sah man keine wirklichen Wortführer des Brexits in den Verhandlungsstäben oder bei der praktischen Gestaltung des Lebens danach. Nach der herkömmlichen Ordnung der politischen Dinge hätte es den führenden Brexiteers zufallen müssen, eine Regierung zu bilden und das Land in die von ihnen vorgestellte Zukunft zu führen. Aber sie haben dazu weder Organisation noch Partei und auch keine Ambition, allein die Loslösung selbst war ihr Ziel. Der Rest wurde einer uralten Partei überlassen, die auch diese Mode noch mitmacht, um weiter an der Macht zu bleiben, und notfalls eben lügt.
Bewegungen, die keine Organisation möchten und auch nicht teilnehmen am politischen Wettbewerb und am parlamentarischen Verfahren, sind ein Kennzeichen der Zeit. Ihnen gemeinsam ist ein sehr spezifischer und stets hasserfüllter Furor. Diesen kulturellen Treibstoff beziehen ihre Mitglieder aus derselben Quelle: stundenlange Solosessions vor den Radikalisierungsfilmen und Chatgruppen der großen digitalen Plattformen, theoretisch vernetzt, faktisch aber ganz allein.
Früher wären die gröbsten Verirrungen noch vor dem Mittagessen ausgeräumt worden
Auch die Bewegung der Querdenker fügt sich gut in dieses Schema. Wer die Wortbeiträge auf Demonstrationen hört, die Schilder liest, kann sich fragen, ob die steilen Thesen, etwa der ewige Vergleich der Bundesrepublik mit dem NS-Staat oder dem SED-Regime, den Test eines freimütigen politischen Smalltalks in der Familie oder am Arbeitsplatz bestehen mussten. Kennen die denn niemanden, der diesen offenkundigen Unsinn widerlegt – oder sind sie für andere Ansichten gar nicht mehr erreichbar? Als der individuelle Alltag noch kommunikativ durch Großfamilie, Firma, Nachbarschaft, Kirche und Gewerkschaften geprägt war, wären die gröbsten historischen Verirrungen noch vor dem Mittagessen ausgeräumt worden. Heute hingegen werkeln viele Menschen an ihren Privatideologien wie einst Modellbauer im Hobbykeller an besonders komplexen Holzschiffen.
In dem sehr aufschlussreichen sechsteiligen Podcast „Cui bono: WTF happened to Ken Jebsen?“ über die Geschichte des Querdenker-Idols kann man dieses Muster gut studieren: Jebsen wurde umso radikaler, je weniger er an Institutionen, journalistische Redaktionen oder Freundeskreise gebunden war. Das war ein längerer Prozess: Vom Fernsehen wechselte er zum Radio, eigentlich wollte man ihn überall loswerden. Als sich auch enge Weggefährten abwandten, weil seine Positionen zu Israel immer abenteuerlicher wurden, als er also isoliert arbeitete, zündete er eine neue Stufe seiner Verschwörungs- und Misstrauensproduktion: Seine erfolgreichsten Videos zeigen ihn ganz allein beim flüsternden Agitieren und spiegeln damit die Rezeptionssituation seiner Anhänger. Maximale Radikalisierung klappt am besten in maximaler Isolierung.
Das ist auch ein verblüffendes Element in den Videos, die prominente deutsche Schauspielerinnen und Schauspieler unter dem Titel „Allesdichtmachen!“ veröffentlichten. In den kurzen Clips geht es um eine querdenkerisch raunende, notdürftig satirisch bemäntelte Kritik an den Corona-Maßnahmen der Bundesregierung. Aber die Form ist für eine Gruppe, die sich ja als solche versteht und auf öffentlichen Zuspruch hofft, ganz erstaunlich: Sie stehen nicht etwa gemeinsam und einladend vor der Kamera, wie es Mitglieder einer neuen Bewegung sonst gerne tun, vielmehr flüstert und raunt in diesen Filmchen jede und jeder für sich allein – verloren in einer viel zu großen Filmstudio-Wohnung. Die Inszenierung: abgefilmte Selbstgespräche. Die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie haben die Einsamkeit noch mal verdeutlicht und diese Art der Soloradikalisierung verstärkt. Nach den Warnungen vor dem segensreichen Impfstoff und lebensrettenden Maßnahmen werden diese Bewegungen sich neue Themen suchen, immer befeuert von wechselnden Interessengruppen. Werden Panik machen, ihre Opponenten verteufeln, hier und da zur Gewalt tendieren und letztlich versanden.
Man sollte diese Bewegungen in einem Zusammenhang und vor dem Hintergrund einer umfassenderen gesellschaftlichen Entwicklung betrachten – der Zunahme der Einsamkeit. Schon zu Beginn des Jahrhunderts veröffentlichte der amerikanische Soziologe Robert Putnam seine Studie „Bowling Alone“, in der er eine wichtige Feststellung traf: Die Teilhabe der amerikanischen Bürgerinnen und Bürger an Vereinen und Organisationen, in denen sie auf anders gesinnte, anders sozialisierte Menschen trafen und mit denen zusammenarbeiten mussten, nahm rapide ab. Freizeit wurde individuell verbracht und gestaltet. Man ging zwar noch zum Bowlen, aber in den entsprechenden Vereinen war kaum noch jemand. Putnam schrieb damals dem Fernsehen eine kulturelle Mitschuld zu, weil es eine einsame Freizeitgestaltung erleichtert.
Ohne Zweifel hatte er so den Beginn eines säkularen Trends beschrieben, der sich seitdem noch mal mit beträchtlicher Energie fortgesetzt hat: Die großen digitalen Plattformen haben ausgeklügelte Techniken, um die Nutzer zum stundenlangen Schauen und Surfen zu verführen, und vermitteln zugleich eine Illusion von Gemeinschaft. Mehr noch: Die gesamte Wirtschaft hat sich vom industriellen Modell der Belegschaft, die in der Nähe der Betriebsstätte wohnt und deren Familie kirchlich, gewerkschaftlich oder nachbarschaftlich organisiert ist, wegbewegt.
Heute bestimmen Mobilität und Flexibilität die Arbeitswelt, die Risiken der Existenz werden zunehmend privatisiert. Volksparteien, Kirchen und Gewerkschaften schrumpfen seit Jahrzehnten. Diese Institutionen sind nicht nur Interessengruppen, sondern eben auch Foren der politischen und gesellschaftlichen Bildung, dienen dem Abgleich von Positionen und vermitteln die hohe Kunst des Kompromisses. Solche Foren sind rar geworden: Meinung wird privat gebildet und kommt ohne Widerspruch aus.
Viele wirken in der Gegenwart von Fremden erstaunt und überfordert
Der digitale Kapitalismus weiß das zu nutzen: Schon 2013 analysierte Frank Schirrmacher in seinem Buch „Ego“, wie die im Kalten Krieg entwickelte, nichtkooperative Spieltheorie als Grundlage für jene Algorithmen diente, mit denen heute die großen Plattformen arbeiten: Maximale Gewinnoptimierung bei minimaler Rücksicht, und der Sieger bekommt alles – die Trump’sche Art, Politik zu machen, ist keine Ursache, sondern sie war dann von 2016 an Symptom dieser langfristigen Trends.
Der negative Aspekt des zugegebenermaßen auch als befreiend erlebten, digitalen und postmodernen Individualismus ist die zunehmende Vereinzelung, die Abnahme der Kompetenz, zu kooperieren und Kompromisse zu finden, sowie die Zunahme des allgemeinen Misstrauens. Manchmal kann man das sogar auf Straßen, in Bahnhöfen oder Fußgängerzonen beobachten: Obwohl die Erdbevölkerung so groß ist wie noch nie, scheint die Fähigkeit, sich in einer Menge zu bewegen, Rücksicht zu nehmen und höflich zu interagieren, abzunehmen. Wo Menschen am Arbeitsplatz, in Schule, Studium und Freizeit nur daran gewöhnt sind, nach vorn auf einen Schirm zu schauen, geht das Gespür dafür abhanden, dass auch hinter mir noch etwas passiert, jemand sein mag, der vorbei möchte. Viele wirken in der Gegenwart von vielen Fremden schlicht erstaunt und überfordert.
Diana Kinnert und Marc Bielefeld haben die Tragweite des Problems in ihrem Sachbuch „Die neue Einsamkeit“ eindrücklich belegt. Es handelt sich längst um ein vordringliches gesellschaftliches Thema mit weitreichenden, übrigens auch gesundheitlichen Konsequenzen. Und es verändert die Politik, wie jede neue gesellschaftliche Kraft. Als sich die Industriearbeiter formierten, fand das seinen Ausdruck im Aufstieg von Sozialdemokratie und Kommunismus; als die religiöse Landbevölkerung und die frommen Handwerker der Provinzstädte sich in Zeiten zunehmender Urbanität und Moderne zusammenfanden, begann der politische Katholizismus. Bewegungen wie die Querdenker sind der politische Arm der Einsamkeit.